In Solitude, book/magazine, Tobias Bodio, september 2010, Merz & Solitude.
Wir kleiden uns, um zu wissen, wer wir sind, um Dinge auszudrücken, die man nicht sagt. Es ist eine Art Philosophie. Wir kleiden uns aber vor allem, weil wir sind: Es ist eine Folgeerscheinung unserer Existenz. Wir sind niemals nackt. Die entblößte Haut ist ein subtiles Kleidungsstück. Das Zusammenspiel von Stoff und Körper ist wie das Zusammenspiel unseres Bewusstseins und unseres Unterbewusstseins, wie das Verhältnis zwischen unseren Instinkten und unseren Gedanken.
Nichts ist wichtiger als das, was man uns über die Schultern und um die Beine legt, nichts bedeutungsvoller als das, was man uns um den Hals und an unsere Handgelenke hängt. Kleidungsstücke sind nicht einfach nur Dinge, sie sind Panther und Medusen, wilde Tiere, die in unserem inneren Dschungel und unseren inneren Ozeanen gewachsen sind. Die einzig wirkliche Fauna lebt im Mann und in der Frau. Amazonien liegt nicht in Südamerika, es ist eine Region unseres Körpers. Die Natur ist lediglich der Spiegel unserer Intimität. Diese aus Stoff gemachten Tiere sind gewaltig. Man darf nicht an ihre augenscheinliche Sanftheit glauben, an ihre scheinbare Zerbrechlichkeit. Sie sind mächtig. Sie schützen uns und gleichzeitig wappnen sie uns vor der Begegnung mit den anderen. So gehen wir durch die Welt, gekleidet in wilde Tiere.
(translation by Silke Pflüger)